Dienstag, 1. Dezember 2009

Rostock? Fand ich gut!


Man hätte sich nicht beschweren können

ÜBERSTEIGER #97

Am Montag, dem 2. November war es mal wieder so weit, Rostock stand auf dem Plan. Da diesmal niemand aus meinem direkten Umfeld die Reise gen Osten antreten wollte, schloss ich mich der “G.A.S.“ an (im Übrigen nach Meinung eines Redaktionskollegen hinter „USP“ und den „Skinheads“ die dritteinflussreichste Fangruppierung des FCs). Gegen 14:30 Uhr trafen wir uns am Altonaer Bahnhof.

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug
nach Rostock? Ich muss da eben mal hin!
Allerdings fuhr der rote Sonderzug erst mit einer halbstündigen Verspätung ab, und somit hieß es nicht zum letzten Mal am heutigen Tage: Warten! Obwohl es im Zug angeblich für jeden einen Sitzplatz hätte geben sollen, ging ich diesbezüglich erstmal leer aus. Das lag wohl auch daran, dass gefälschte(!) Fahrkarten im Umlauf waren. Wie hohl muss man eigentlich sein, um den Fanladen zu bescheißen?
Trotz Stehplatz gestaltete sich die Zugfahrt außerordentlich kurzweilig, denn meine Reisegruppe war außerordentlich gut aufgelegt und machte ordentlich Ramtamtam. Fand ich gut!
Ab Bad Kleinen dann waren sämtliche Bahnhöfe von der Polizei hermetisch abgesperrt. Trotzdem flogen zwischen dem Rostocker Hauptbahnhof und Parkstraße ein paar Steine gegen unseren Zug und dabei ging dann auch mindestens eine Scheibe zu Bruch.
Am Bahnhof Parkstraße angelangt, war von den Rostockern weit und breit nichts zu sehen. Die Polizeischeinwerfer tauchten den leeren Bahnsteig, mal abgesehen von einigen Bullen im Gleisbett war bei unserer Einfahrt niemand da, in ein gespenstisches Licht. Meine anfängliche Anspannung legte sich rasch, denn es war mal wieder Beine in den Bauch stehen angesagt. Unsere Verspätung in Altona hatte aber die positive Konsequenz, dass wir nicht allzu lange auf den gelben Zug warten mussten.
Wie auch im restlichen Verlauf des Abends ging das Konzept der strikten Fantrennung während des Marsches zum Stadion komplett auf. Obwohl bereits hier das ein oder andere Bengalo brannte und ein paar Knaller explodierten, bewahrte unsere Staatseskorte Ruhe und griff nicht ein. Das habe ich in der Vergangenheit in vergleichbaren Situationen wahrlich schon anders erlebt und man hätte sich über ein rigoroseres Einschreiten nicht beschweren können. So verhinderte die Exekutive eine frühere Eskalation, und das war gut so!

Viel Rauch um Nichts – Der Marsch zum Stadion
Foto: Stefan Groenveld
Am Stadion angekommen hieß es mal wieder, ihr ahnt es bereits, warten. Nach einer geschlagenen Dreiviertelstunde nahm sich dann endlich ein Ordner meiner an und filzte mich so gründlich, wie es mir zuvor mein Lebtag noch nicht widerfahren ist. Selbst Portemonnaies mussten geöffnet werden und den allseits beliebten „Gegen Rechts“-Aufklebern blieb der Weg ins Innere versagt. Umso verwunderlicher, was es trotzdem alles an Pyrotechnik in den Gästeblock schaffte. Aber dazu später mehr.
Von „Können wir uns mal eure Mütter ausleihen?? Wir wollen zum Fasching als Hurensohn gehen!“ über „Nicht nur der Wind bläst stark, Corny…“ bis hin zu „Wie spielt es sich für linksfaschistoide Hygienemuffel?“ gab es von Rostocker Seite jede Menge Obszönitäten zu bestaunen.
Das Ganze gipfelte in einer an „Geschmacklosigkeit nicht zu toppende Anspielung auf den in Aachen verunglückten St. Pauli-Fan“, wie eine Hamburger Boulevard Zeitung am folgenden Tage zu berichten wusste. Fast richtig, es sei denn, man druckt das Foto des leblosen Opfers auf die Titelseite, um die Auflage zu steigern und die Sensationsgier einiger Perverser zu befriedigen.
Zum sportlichen Teil auf dem Rasen gibt es in der ersten Halbzeit eigentlich nicht viel zu sagen. In einer zerfahrenen Partie, bei der man einen Einwurf in der gegnerischen Hälfte schon als Erfolg werten musste, hatte Hansa mit einem Lattenkracher und zwei knapp am Tor vorbeirauschenden Bällen noch die weitaus besseren Chancen. Auf der anderen Seite vergab Bruns, allein vor Keeper Walke, kläglich. Und so hätte man sich nicht beschweren können, hätte es zur Halbzeit bereits 2-0 für die Gastgeber gestanden.
Im zweiten Spielabschnitt blieb es bis zum Freistoß in der 76. Minute beim gleichen Bild. „Jetzt ein schöner Freistoßtrick und dann wichst Lehmann das Ding rein“, raunte ich meinem Nachbarn noch zu, als die Kugel auch schon im Giebel einschlug.
Jaaaaaa! Jetzt gab’s kein Halten mehr, der Block explodierte, die Luft brannte!
Zugegebenermaßen stehe ich persönlich ja aus atmosphärischen Gründen auf Bengalos und halte das Verletzungsrisiko für vertretbar, solange die Dinger auf dem Boden oder in der Hand bleiben. Aber das ist lediglich meine Meinung. Faktisch sind und bleiben Bengalos verboten und führen in der Regel zur Bestrafung unseres Vereins. Da wird man als fürsprechender Fan auch mit den besten Argumenten immer den Kürzeren ziehen. Überhaupt keine Diskussion darf es indes über das Werfen von Vogelschreckböllern in eine Menschenansammlung geben. Wie das Beispiel der verletzten Ordnerin zeigt, wird es eben nicht zwingend die Richtigen treffen. Dabei ist ein Knalltrauma noch eine der harmloseren Verletzungen, die diese Kleingeister dabei in Kauf nehmen. Normalerweise wäre spätestens dies der Startschuss für das Team Green gewesen, mächtig in Wallung zu geraten und den Block zu entern. Diesmal aber blieben die behelmten Köpfe kühl, und darüber möchte ich mich nicht beschweren.
Wenn man diesem Vorfall dann etwas Positives abgewinnen will, ist es die Erkenntnis, dass im Gegensatz zu den Geschehnissen in Bremen wenigstens der Selbstregulierungsprozess im Block zu funktionieren schien.
Statt mit dumpfer Gewalt hätte man dem Rostocker Pöbel von Anfang an mit einer Tugend begegnen sollen, die ich in den letzten Jahren immer häufiger zu vermissen beginne: Selbstironie! Als der Suptras-Block den alten Bahnhofsmission-Klassiker intonierte, stimmte unser gesamter Anhang ein: „Wir sind Zecken, asoziale Zecken…“. Fand ich gut!
Wahrscheinlich hätten sich die Gemüter im Stadion einigermaßen beruhigt, hätte anschließend nicht Deniz Naki zu seiner großen Performance angesetzt. Nachdem er die Kogge durch seinen Treffer zum 2-0 endgültig versenkt hatte, ließ er sich zu der viel diskutierten Halsabschneider-Geste hinreißen. Aber mein Gott, der Junge ist gerade mal 20 und sah sich fortwährender, rassistischer Beschimpfungen ausgesetzt. Dabei ist er nun mal sehr heißblütig. Sicher ist das Ganze grenzwertig. Auf der anderen Seite lechzt die Öffentlichkeit permanent nach Emotionen in der glattgebügelten Fußballwelt. Ständig wird die gute, alte Zeit zitiert, in der ein Matthäus, Effenberg oder Basler quasi wöchentlich den Gesprächsstoff für die Stammtische der Republik lieferten. Insofern empfinde ich drei Spiele Sperre für ein Vergehen, für das Gerald Asamoah vor zwei Jahren noch leer ausging, doch ein wenig zu hart.

Geradezu lächerlich mutet es an, die Vorkommnisse als eine der schlimmsten Entgleisungen in der Geschichte des deutschen Fußballs zu bezeichnen und eine drakonische Bestrafung für Naki zu fordern, wie es ein Sprecher der Gewerkschaft der Polizei tat. Damit machte er Deniz indirekt für die anschließende Randale des Rostocker Pöbels verantwortlich. Seit wann liegt es überhaupt im Aufgabenfeld der GdP als Chefankläger für Sportvergehen aufzutreten? Kümmert euch gefälligst um eure eigene Scheiße! Sorry, das musste mal raus.
Man mag mir Pietätlosigkeit vorwerfen, aber nach dem Abpfiff die Flagge in das eroberte Territorium zu rammen, verdient nur ein Prädikat: Weltklasse!

Hier regiert nur einer – Sankt Pauli und sonst keiner
Foto: magischerfc.de
Die enormen Solidaritätsbekundungen beim anschließenden Heimspiel gegen Düsseldorf waren dann auch schlichtweg überwältigend. Und so hat vielleicht selbst das überzogene Strafmaß etwas Gutes. Naki wird aus der Halsabschneider-Geschichte von Rostock nicht nur lernen und daran wachsen, nein, etwas viel Wertvolleres kann daraus resultieren. Seine riesige Identifikation mit dem FC St. Pauli und der bedingungslose Rückhalt der Fans - von offizieller Vereinsseite hätte ich mir schon etwas mehr Rückendeckung gewünscht - könnten eventuell mal zu einem entscheidenden Faustpfand werden, wenn es eines Tages um eine vorzeitige Verlängerung seines bis 2012 datierten Kontrakts geht und ein finanzkräftigerer Verein im Hintergrund lauert.

Einer für alle, alle für einen
Foto: magischerfc.de
Zurück nach Rostock. Als wir das Stadion verließen, unkte noch jemand, dass es jetzt wohl deutlich schneller ginge als beim Einlass. Pustekuchen! Am ersten Zaun war Schluss. Es hieß mal wieder…

…Warten!

Beim Abpfiff drohten die Rostocker uns noch: „Nur nach Hause kommt ihr nicht!“. Naja, zumindest eine gehörige Verspätung hat uns ihr Auftritt nach Spielende eingebrockt. Diesmal dauerte es über ein Stunde, bis die Staatsmacht den Weg zum Bahnhof vom Rostocker Abschaum, der sich nach der sportlichen Demütigung erst einmal austoben musste, gesäubert hatte und wir uns endlich auf den Heimweg machen konnten. Bei Regen und mit einer Niederlage im Gepäck wäre ich im wahrsten Sinne des Wortes angepisst gewesen. So aber will ich mich mal nicht beschweren.

Rostock? Fand ich gut!



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