Mittwoch, 21. Oktober 2009

Schanzenfest Reloaded


Warum man beim Eisessen nicht
in ein Wespennest stechen sollte

ÜBERSTEIGER #96

Eigentlich war ich nach der zweiten Auflage des Schanzenfestes 2009 aufgrund des friedlichen Verlaufes total happy.

Zum einen, weil die Staatsmacht diesmal, auch wenn Käpt‘n Ahlhab Gegenteiliges behauptet, eine komplett andere Taktik fuhr und somit bis in die späten Abendstunden weit und breit kein Bulle in angsteinflößender Kampfmontur zu sehen war. Zum anderen freute mich das besonnene und deeskalierende Verhalten der Anwohner, die Feuer löschten oder ein paar über die Stränge schlagende Besucher zur Räson riefen.

So holte sich beispielsweise eine kleine Gruppe Halbwüchsiger, die es als eine Art Mutprobe verstand, fremden Frauen an den Arsch zu greifen, einen gehörigen verbalen Einlauf ab.

Infolgedessen gab es, abgesehen von ein paar alkoholbedingten Ausfällen, eigentlich auch nichts zu beklagen. Ein deutlicheres Symbol, als die fröhliche Kissenschlacht vor der Flora, kann es für die Friedfertigkeit an diesem Tage gar nicht geben.

Die Kissenschlacht – Leider nicht das letzte Gefecht des Abends
Foto: Tina Fritsche
Im Verlaufe des Abends genoss ich dann mit einigen Freunden die Party im Flora-Park und später noch in der Rosenhofstraße.

Dabei war auch Moische, einer meiner besten Kumpel, der sich unvermittelt einer plumpen Laberattacke erwehren musste, weil er seinen leeren Pappbecher (!) auf die Straße geworfen hatte.

Da habe ich mich schon gefragt, wie man auf der einen Seite mehr rechtsfreie Räume einfordern kann, um sich aber im selben Atemzug über eine lächerliche Ordnungswidrigkeit aufzuregen. Wohlgemerkt spreche ich hier von einem weggeworfenen Pappbecher auf einem Straßenfest, an dem sich mehrere tausend Leute beteiligten!

Nun, mein lieber Freund Moische hat einen klitzekleinen Fehler, den ich euch bisher verschwiegen habe. Unglücklicherweise unterstützt er den Verein aus der Vorstadt. Und da die St. Ellinger an diesem Abend gegen den VfB Stuttgart spielten, trug Moische noch sein Rauten-Jersey. Da behaupte ich jetzt mal kackfrech, dass dies der eigentliche Grund war, ihn wegen des Bechers anzumachen.

Soviel nur zum Thema „Eine Stadt für Alle“.

Sofern ihr schon mal die eine oder andere meiner Blog-Kolumnen gelesen habt, werdet ihr wissen, dass ich der Letzte bin, der sich ziert, die Rothosen zu provozieren oder sie beim geringsten Anlass mit Hohn und Spott zu überschütten. Daraus aber ein Politikum zu machen ist einfach nur arm!

Spätestens die Demo gegen Polizeigewalt nach dem Überfall auf das „Jolly Roger“ beim letzten Schanzenfest, an der sich auch mehr als 50 Leute aus der Supporters-Szene beteiligten, hat gezeigt, dass es bei den Rautenträgern eben nicht nur Idioten gibt. Zugegebenermaßen weiß ich nicht, ob ich mich umgekehrt an einem HSV-Protestmarsch beteiligt hätte.

Auch wenn es ein wenig abgedroschen klingt, aber es kann nun mal nicht jeder St. Pauli-Fan sein, und wer frei von Fehlern ist, der werfe den ersten Stein.

Aber auch von dieser Sorte scheint es ja ein paar Leute Kiddies zu geben. Anders jedenfalls kann ich mir nicht erklären, wie man im Verlaufe eines absolut friedlichen Straßenfestes, das wahrlich zu einem großen politischen Erfolg hätte werden können, auf die abstruse Idee kommt, eine Bullenwache anzugreifen. Damit zwang man die Staatsmacht förmlich, aktiv zu werden. Oder ist tatsächlich jemand ernsthaft der Meinung, dass die Polizei diese Provokation hätte ignorieren können?
Ob die Attacke gegen das PK16 die Bullen nun dazu berechtigt, kategorisch das ganze Viertel zu räumen, weil die Angreifer angeblich in der Menge untergetaucht oder, wie andere Quellen behaupten, ins Karo-Viertel geflüchtet seien, ist eine völlig andere Frage.

Mir ist die Intention der Provokateure bis dato jedenfalls absolut schleierhaft. Es ist, als würde man im Sommer beim Eisessen über die vielen Wespen klagen und wenn auf einmal keine da sind, dann sticht man halt ins Wespennest. Alles nur, um seine Klischees bewahrheitet zu sehen ein bisschen Action zu haben.

Was einige Anwohner von dieser Aktion hielten, soll das folgende Statement zweier Augenzeugen unmittelbar nach dem Angriff verdeutlichen:

„Das ist so scheiße, das war so schön bis gerade! Wir freuen uns die ganze Zeit, es war echt schön, und diesmal hält schwarz-rot drauf, und das tut weh! Die Bullen sind diesmal nur zur Verteidigung da. (…) Diesmal haben die Bullen nichts gemacht, es war das erstemal, wo das Schanzenfest friedlich hätte sein können. Wir haben uns gefreut. Aber das, finden wir, ist eine Scheiß-Anarcho-Aktion. Das bringt Tränen. Wir stehen hier zusammen und freuen uns. Wir wollen einfach alle zusammen tanzen, alle Nationalitäten, alle sind zusammen. Und dann gibt es ‘n paar Shorties, die wollen zeigen, dass sie einen dicken Schwanz haben. Das macht echt keinen Sinn. Das sind nicht wir, das ist nicht St. Pauli und das ist auch nicht die Schanze (…) Da stehen wir nicht hinter. Und jeder, der hier schwarz ist, der kann gerne auf’s Maul bekommen, denn das wurde unnötig provoziert. (…) Das ist nicht fair für die Leute, die sich hier heute den Arsch aufgerissen haben. (…) Wir wollten zusammen feiern und hatten unseren Spaß. Jetzt wollen irgendwelche Kiddies zeigen, dass sie Kraft haben. Aber nicht heute Abend man, heute hättet ihr hinter der Sache stehen können.“

Nur noch Kopfschütteln rief bei mir dann die Meldung hervor, dass später in der Nacht irgendwelche Vollpfosten noch den Container des „Jesus Centers“ im Flora-Park aufbrachen und das dort für die Kinder des Viertels gelagerte Spielzeug zum Barrikadenbau missbrauchten und es anschließend anzündeten.

Da muss man kein gläubiger Atheist sein, um sowas scheiße zu finden!

So, jetzt kratzt gefälligst euer Taschengeld zusammen, damit ihr wenigstens diesen materiellen Schaden ersetzen könnt!


Dieser Beitrag erschien bereits am 17/09/09 in leicht veränderterer Form in der Rubrik „Politix“. HIER ist auch das vollständige Anwohner-Interview als YouTube-Film zu sehen.



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