Freitag, 25. Februar 2011

Es regnet

Die Gedanken eines Anderen

ÜBERSTEIGER #102

Meine Stirn drückt gegen das kühle Fensterglas. Ich sitze in der Küche und starre auf die Straße. Von weitem sehe ich ein Auto näher kommen. Die Scheinwerferkegel sind gut zu erkennen. Das Licht spiegelt sich auf dem nassen Asphalt wider. Es regnet. Es ist einer dieser Sonntage voller Tristesse, grau und ungemütlich. Nur, dass heute alles viel schlimmer ist.

Eigentlich hatte ich diesen Sonntag ganz anders geplant, eigentlich. Jetzt sitze ich hier und die Gedanken schießen durch meinen Kopf. Mein Atem schlägt sich auf der Scheibe nieder und ich schreibe mit dem Finger die drei großen Buchstaben, die mir soviel bedeuten. Mama sagt, sie verstehe mich nicht mehr und ich sei fanatisch.

Mein Blick wandert durch unseren Vorgarten. Dort sprießen die ersten Schneeglöckchen und strotzen wacker dem Regen. Ich mag die Schneeglöckchen, weil sie Vorboten des Frühlings sind. Im Frühling gehe ich besonders gerne zum Fußball. Die Saison befindet sich in der entscheidenden Phase und das Wetter ist schön. In den vergangenen Jahren ging es meist darum, ob wir es noch in den UEFA-Cup schaffen. Letztes Jahr haben wir es nicht geschafft. Leider.

Wenn ich mit den Jungs zum Spiel fahre, dann warten wir an unserem kleinen Bahnhof auf den alten Zug mit der Diesellokomotive. Ich mag das Geräusch der Maschine und den Geruch des Diesels. Sie gehören für mich zum Fußball dazu. Wenn wir einsteigen, beschlagnahmen wir meist einen Vierersitzplatz. Die Leute neben uns stehen dann auf und setzen sich woanders hin. Ist schon ein cooles Gefühl, wenn Andere Respekt vor einem haben. Es sind nur ein paar Stationen bis zum Stadion. Naja, zumindest bis Eidelstedt. Von da muss man dann noch eine halbe Stunde zu Fuß laufen. Aber das müssen ja alle, die mit der Bahn kommen. Insofern zählt das nicht. Wenn ich es so betrachte, dann liegt unser Dorf eigentlich ziemlich zentral. Auf der Fahrt ins Stadion trinken wir dann unser Dosenbier, dass wir uns auf dem Weg zur Bahn bei Ali gekauft haben.

Ali betreibt die Dönerbude an der Hauptstraße und er ist der einzige Ausländer, den ich persönlich kenne. Wenn ich mit den Jungs bei ihm bin, dann nennen wir ihn scherzhaft Kanake. Aber Ali weiß, dass wir nur Spaß machen. Ali hat sogar einen kleinen Wimpel mit Raute in seinem Imbiss hängen. Ali ist echt okay. Kein Vergleich zu dem hinterhältigen Zigeunerpack, das sich beispielsweise auf St. Pauli rumtreibt.

Die Jungs waren gestern Abend auf dem Kiez. Da ist wohl gut was gegangen. Sie haben die Zeckenkneipe aufgemischt und konnten dabei mit 200 Mann ungehindert vom Hans-Albers-Platz bis dahin laufen. Die Bullen haben nichts gemacht. Man darf es ja eigentlich gar nicht laut sagen, aber ich finde, manche der Cops sind echt schwer in Ordnung.

Ich war nicht mit. Mir geht es nicht so gut. Außerdem hat es gestern auch schon geregnet. Diesmal ist es wirklich schlimm. Das Schrecklichste ist, dass Mama so traurig wirkt. Sie hat gesagt, sie verstehe mich nicht mehr und frage sich, was sie denn falsch gemacht habe. „Du hast gar nichts falsch gemacht“, habe ich gesagt. Stimmt ja auch, was kann Mama denn dafür? Sie wird es Papa erzählen, aber das ist eigentlich auch egal. Es weiß eh das ganze Dorf.

Damals als ich 14 war, wusste es auch das ganze Dorf. Papa hat mich mit dem Gürtel verdroschen und ich musste an vier Wochenenden Bauer Hansen auf seinem Hof helfen. Ställe ausmisten und so. Weil ich einer seiner Kühe einen Böller an den Schwanz gebunden hatte. Papa musste dann trotzdem noch eine Entschädigung zahlen. Obwohl ich beim alten Hansen geschuftet hatte. Die Kuh gab danach nämlich keine Milch mehr und musste zum Abdecker. Irgendwie tat mir das Tier sogar ein bisschen Leid. Weil sie zum Schlachthof musste und das war teilweise ja auch meine Schuld. Aber diesmal ist es schlimmer. Viel schlimmer! Was mache ich, wenn Mama und Papa mich rausschmeißen? Wo soll ich dann hin? Mir kullert eine Träne über die Wange. Ich fange sie mit meinem kleinen Finger auf und setze sie sanft auf die Fensterscheibe. Draußen perlen die Regentropfen das Glas hinunter. Hier drinnen läuft meine kleine Träne. Sie rinnt genau durch das große „S“ und macht aus ihm ein Dollar-Zeichen. H$V steht jetzt auf der Scheibe. Irgendwie verrückt.

Der Grund, warum ich heute nicht zum Fußball gehe, ist allerdings nicht der Regen. Ich kann auch nächste Woche nicht gehen. Und übernächste Woche auch nicht. Insofern ist es eigentlich ganz gut, dass wir dieses Jahr nicht im UEFA-Cup spielen. Sonst hätte ich Mittwoch auch nicht ins Stadion gehen können.

Sie haben die Bilder aus der Videoüberwachung ausgewertet. Darauf haben sie mich erkannt. Sie haben mir meine Dauerkarte weggenommen und gesagt, dass ich bis auf Weiteres bundesweites Stadionverbot hätte. Außerdem ermittelt die Polizei gegen mich. Zu allem Überfluss soll ich auch noch die Kosten für den Kampfmittelräumdienst übernehmen. In der Zeitung war ich auch. „Bombenalarm in der Arena“ haben die geschrieben. Ich bin doch nicht Obama bin Laden, oder wie der heißt. Wie gesagt, diesmal ist es wirklich schlimmer.

Als Kind habe ich oft hier gesessen und die digitale Küchenuhr mit den Klappziffern beobachtet. Die hängt schon solange neben dem Geschirrschrank, wie ich denken kann. Ich habe dann immer gewartet, bis die nächste Minute rum ist. Klack! 16:23, normalerweise hätten wir in sieben Minuten – pünktlich zum Anpfiff der zweiten Halbzeit – die Bomben gezündet. Man, dass wäre echt ‘ne fette Nummer gewesen. Mitten im Zeckenblock. Die hätten echt Augen gemacht, wenn da der dichte Qualm in schwarz, weiß und blau aufgestiegen wäre. Irgendwo über dem Stadion hätte sich der Rauch dann vermischt. Was das wohl für eine Farbe ergeben hätte? Wahrscheinlich so eine Art Taubenblau vermute ich. Haben die Chaoten nicht auch immer so eine Taube auf ihren blauen Fahnen, wenn sie auf den Demos durch die Straßen ziehen? Ist irgend so ein Friedenssymbol glaube ich. Ja, ja, für den Frieden randalieren. Mal wieder typisch. Die sind doch alle voller Widersprüche, diese langhaarigen Bombenleger.

Blaues Licht in unserer kleinen Straße. Sie kommen, um mich abzuholen. Mir ist elend zumute. Wann bloß hört endlich dieser Gott verdammte Regen auf?



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