Donnerstag, 2. Dezember 2010

Eine neue Liga ist
wie ein neues Leben

ÜBERSTEIGER #101

„Eine neue Liga ist wie ein neues Leben!“ Das war einer der vielen Gassenhauer, die am 2. Mai sowohl in Fürth, als auch rund um den Kiez und überall anderswo der allgemeinen Glückseligkeit der braun-weißen Anhängerschaft Ausdruck verlieh. Die vielleicht aufregendste Saison der Vereinsgeschichte mit vielen Highlights, aber auch großen Tragödien und einigen Streitigkeiten, gipfelte im fünften Aufstieg in die Beletage des deutschen Fußballs. Dass dies alles ausgerechnet mit den großartigen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Vereinsjubiläum zusammenfiel, macht es umso schwieriger, diese Spielzeit zu übertreffen. Da ist es fast nur einen untergeordneten Gedanken wert, dass der Club finanziell so gesund dasteht, wie selten zuvor.
Neu ist aber eben nicht nur die Liga und der damit einhergehende Genuss, sich mit Mannschaften wie Schalke, Bayern oder Werder messen zu dürfen, verändert haben sich auch viele andere Dinge – sowohl im Viertel, als auch im Verein.

Was seit geraumer Zeit an struktureller Entwicklung im Stadtteil abläuft, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Während alteingesessene Bewohner systematisch vertrieben werden, stehen frischsanierte Häuser leer, bloß weil sich niemand findet, der bereit ist, aberwitzige Mieten oder astronomische Wucherpreise für Eigentumswohnungen zu zahlen. Obendrein unterstützt der schwarz-grüne Senat dieses widerwärtige Gebaren, indem er die steuerliche Abschreibung leerstehender Immobilien ermöglicht.

Ein Blick auf die Haupttribüne verdeutlicht das Dilemma

Das die Gentrifizierung allerdings auch vor den Toren unseres Stadions nicht halt macht, ist mir erst kürzlich bewusst geworden. So wird sich manch Dauerkarteninhaber der Haupttribüne verwundert die Augen gerieben haben, als er feststellte, dass er zur neuen Saison bis zu 20 Prozent mehr für sein Billet ablatzen durfte, als im vergangenen Jahr. Dafür wohnt er dem Geschehen heute nur noch in der Peripherie bei. Ein Blick auf die neue Haupttribüne zum Wiederanpfiff, der zweiten Halbzeit verdeutlicht das ganze Dilemma. Schaut doch heute einfach selbst mal rüber. Da finden sich jede Menge leere Business-Seats in zentraler Lage zum lächerlichen Spottpreis von 220,- Ocken pro Spiel - zuzüglich Mehrwertsteuer versteht sich - während Fans, die teils jahrzehntelang die Kultur einer Tribüne geprägt haben, heute mit Sichtbehinderung am Rand Platz nehmen dürfen. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass der Durchschnittsfan wohl niemals solche Umsätze wird generieren können. Denn trotz horrender Bierpreise von 3,50 € wäre wohl auch der trinkfesteste St. Paulianer sternhagelvoll, wollte er auch nur annähernd zum Goldesel namens Logengast oder Business-Seat Besucher mutieren.

Natürlich ist auch mir klar, dass man manchen Kompromiss eingehen muss, um dauerhaft in der obersten Spielklasse bestehen zu können. Es ist die vielzitierte Gratwanderung oder eben der Spagat zwischen Kommerz und Kultur, der gelingen muss. Allerdings empfehle ich, sich tunlichst auf eine der beiden Metaphern festzulegen, denn ein Spagat auf einem schmalen Grat führt unweigerlich zu schmerzhaften Grenzerfahrungen.

Manch einer wird es sich wohl anders vorgestellt haben, als er per rasanter Kamerafahrt durch die Katakomben und Séparées der schicken Videoanimation gebraust ist. Jetzt aber ist es, wie es ist. Mit dem grauen Betonkasten haben wir im wahrsten Sinne des Wortes einen Klotz am Bein, den wir wohl so schnell nicht wieder los werden. Hieß es vor der Saison nicht: „Wir wiederholen die Fehler von 2001 nicht, und wer das Haus gebaut hat, der darf auch einziehen“? Gilt so eine Aussage eigentlich nur für die Spieler oder auch für die Fans?

Wo liegt der Unterschied zwischen beiden Tribünen? Richtig!
Die eine ist ganz leer, dafür ist die andere ganz leise.
Foto oben: Antje Frohmüller
Foto unten: Stefan Groenfeld

Dass es auch anders mit der neuen Haupttribüne hätte funktionieren können, zeigt das Modell „Südkurve“. Wo oben teure Business-Plätze und Logen reichlich Kohle in die Kassen spülen, werden unten 3.000 Stehplätze von USP und dem Fanladen selbst verwaltet. Während sich die aktiven Fans einen selbstbestimmten Raum geschaffen haben, liefern sie gleichzeitig mit ihren aufwendigen Choreos und der frenetische Anfeuerung eine tolle Attraktion für die Prominenten aus Wirtschaft, Politik und Kultur. Natürlich birgt das Experiment der selbstverwalteten Kurve auch diverse Risiken. Wenn die Fans auf einmal ihre ureigenen Interessen in Gefahr sehen, kann es wie in der letzten Spielzeit bei der Partie gegen Rostock vorkommen, dass eine Protestaktion die Annehmlichkeiten der zahlungskräftigen Klientel beeinträchtigt. Gott sei Dank war die Vereinsführung schlau genug, von eventuellen Repressionen abzusehen, die bis hin zur Idee des Entzugs der Selbstbestimmungsrechte reichten. Schließlich hätte man mittelfristig das Millerntor um seine eigentliche Sensation beraubt. Welchen Grund gäbe es für die zahlungskräftigen Gäste dann noch, in diesem herrlich verrückten Stadion ihren Erlebnishunger zu stillen?

Das charakteristische Merkmal war stets die Buntheit

Gefahr ist dennoch in Verzug. Denn neben der wachsenden Kommerzialisierung, die ihr spezielles Publikum anzieht, hat sich in jüngster Vergangenheit noch eine andere Gruppierung etabliert. Verstärkt kommt es im Umfeld des FC St. Pauli zu handfesten Auseinandersetzungen. Damit mich niemand falsch versteht, eine mehr oder minder große Hooliganszene hat es auch bei uns zu fast allen Zeiten gegeben. Der signifikante Unterschied zu unseren Nachbarn aus Stellingen bestand jedoch immer darin, dass sie bei uns niemals die Rückendeckung der Fanszene erfuhr und daher stets im Verborgenen agierte. Mit der „Reisegruppe Kiez“ kristallisiert sich jetzt allerdings eine Gruppierung heraus, die zunehmend offen auftritt.

Dies ist neben dem fortwährenden Ausverkauf das zentrale Thema und die größte Veränderung des letzten Jahres. Es wird unserer Fanszene kaum etwas übrig bleiben, sich besser jetzt als gleich kontrovers mit der Frage auseinanderzusetzten, wie diesem Phänomen zu begegnen ist. Da ist dann mal wieder ein wenig Einfallsreichtum gefragt, denn wohl nicht nur mir gehen dieses prollige Mackertum und das damit einhergehende affige Territorialgehabe mächtig auf die Eier.

Stattdessen wird aber lieber ein Uralt-Thema aufgewärmt und zum x-ten Mal diskutiert, wie denn nun der richtige Support auszusehen hat. Klar, geht es gar nicht, wenn manche Leute anderthalb Stunden über die Nichtigkeiten ihres Alltags schwadronieren und das Spiel nur als schmückendes Beiwerk verstehen. Aber müssen wir deshalb schon wieder diskutieren, wer hier wen niedersingt oder ob die Anfeuerung spielbezogener sein muss? Müssen wir uns Begeisterung abringen, wenn auf dem Rasen der dreiundzwanzigste Pass in die Tiefe am Fuß eines Gegners hängenbleibt? Muss der Funke vom Spielfeld auf das Publikum überspringen oder umgekehrt? Müssen wir uns über Verunglimpfungen und Schmähgesänge echauffieren und gleichzeitig den englischen Stil propagieren, der übrigens zum Großteil aus Schmähungen besteht, während andere lieber italienischen Mustern folgen wollen?

Tante Heike und der Vorstandsvorsitzende
der Stadtsparkasse Werne - Herrlich verrückt!
Foto: Psycho Heiko
Ehrlich gesagt, frage ich mich, wozu wir überhaupt irgendwelchen Vorbildern nacheifern müssen. Das was unsere Fanszene in den letzten Jahrzehnten so unverwechselbar und weit über die Grenzen Europas hinaus bekannt gemacht hat, war stets ihre Kreativität, Ironie und Vielfalt und eben nicht stumpfe Poserei, Engstirnigkeit und langweiliger Einheitsbrei. Vielschichtigkeit bedeutet aber indes auch, dass es Leute gibt, die anders drauf sind, als man selbst und da ist dann eben auch mal Gleichmut gefragt. Nur mit diesem Geist war es in der Vergangenheit möglich, all die großen Erfolge zur Wahrung unserer Interessen zu erreichen. Welche andere Fanszene kann schon von sich behaupten, ihre Grundwerte in der Stadionordnung manifestiert zu wissen? Nur Buntheit und Toleranz sind es, die den Mythos am Leben erhalten können.

Das Dasein in der neuen Liga soll ein angenehmes sein, das ich möglichst lange genießen möchte, um weiterhin stolz behaupten zu können: „Das ist mein St. Pauli!“ Und ja, ich habe ihn tatsächlich getroffen: den Punker neben dem Banker!



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